Wie schön wiegen sich die dunklen, hohen Tannen im Wind, das Geräusch ist still, aber schwer. Je tiefer ich schaue, desto mehr verdichten sich die Farben zu einem Schwarz, das traurig macht, wie es sich auf einem Friedhof auch gehört. Doch das allergrößte Schwarz ist dort, wo später der Sarg hineingelegt wird. Mein Sarg – nein, nicht mein Sarg, der Sarg gehört meinen Eltern, meiner Schwester, meinen Freundinnen und René. Ich brauche den Sarg nicht, denn ich bin frei. Der Sarg ist nur für das, was physisch von mir übrig geblieben ist.
Wenn sie wüssten, dass ich hier bei ihnen bin! Wenn ich ihnen nur sagen könnte, dass ich hier bin, und dass es mir gut geht! So gerne würde ich sie wissen lassen, dass sie sich nicht grämen müssen, dass ich nicht mehr unter ihnen weile!
Ich bin ja selbst ganz erstaunt, dass es mir so wenig ausmacht, nicht mehr unter den Lebenden zu weilen. Dass ich schon jetzt – nach einer Woche Abstand – das Gefühl habe, alles viel klarer zu sehen, als zu meinen Lebzeiten. Ich verstehe jetzt, wie viel Energie es mich gekostet hat, unglücklich zu sein, anstatt meine Zweifel abzulegen und an die Menschen zu glauben, die mich umgeben.
Besonders Sanne dauert mich. Sie habe ich damals so abblitzen lassen, wegen nichts eigentlich. Ich sehe plötzlich glasklar, dass ihr Verhältnis zu meinem Vater zwangsläufig ein ganz anderes sein muss, und dass dies gar nichts mit mir zu tun hat. Dass sie selbst ein wahnsinnig schlechtes Gewissen hatte, weil sie mir verschwieg, dass sie unseren Vater manchmal traf, während er zu mir seit  einem Jahrzehnt keinen Kontakt pflegte. Aber wie hätte sie mir diese Tatsache anvertrauen können, da sie ja wusste, wie sehr mich das verletzt hätte? Ich habe ihr keine Chance gegeben, und was noch schwerer wiegt, mir selber habe ich genauso wenig die Chance gegeben, zu verzeihen und ganz klar für meine eigene Bedürftigkeit, einen Vater zu haben und den Kontakt zu ihm aufzunehmen, einzustehen. Ich habe nicht nur mir das Leben schwer gemacht, das sehe ich jetzt.

Für einige Verwirrung hatte bei Sanne und Mama der Inhalt meines Papierkorbes gesorgt. Zwei Briefe fanden sich dort zerknüllt: Eine Absage auf eine Stellenbewerbung aus Münster und eine Einladung aus Stralsund zu einem Bewerbungsgespräch, das morgen hätte stattfinden sollen. Lange haben sie gerätselt, und waren überhaupt entsetzt, dass ich mich aus Hamburg weg bewerben wollte. Und ich war neben, unter, über, hinter ihnen, habe ihnen wilde Zeichen gemacht, die besagten, dass sie doch wohl nicht ernsthaft glaubten, dass ich sie verlassen wollte? Sie haben es sich dann zum Glück selbst zusammengereimt, wegen der zerknüllten Einladung.
Und jetzt stehen sie hier, an meinem Grab, beide in schwarz gekleidet, mit roten Augen und den traurigsten Blicken, die ich je bei ihnen gesehen habe. René ist auch da. Versteinert ist sein Gesicht, etwas trotzig steht er da, raucht Kette, schon den ganzen Vormittag steckt er sich eine Zippe nach der nächsten an. Ich wünschte, ich könnte ihm wie so oft die Schiebermütze vom Kopf nehmen und ihm mit meinen Fingern durch seine dichten braunen Haare kämmen. Seine Augen sind ja ganz dunkelgrün heute! Da kommt endlich Papa, wieder ein wenig spät, aber das passt ja zu unserem Verhältnis. Gut sieht er aus! Er hat seinen hellen Trenchcoat an, aber darunter ist er schwarz gekleidet. Ich gönne ihm, dass er gut aussieht. Vorhin war ich bei ihm und seiner neuen Freundin. Er ist wohl sehr verliebt. Wie schön, einen solch attraktiven Vater zu haben! Jetzt weiß ich, ich spüre es: Er hat mich auch geliebt. Anders als Sanne, sie war das Wunschkind. Ich war es in gewisser Weise auch, aber ich sollte die Spalte kitten, die sich zwischen den Eltern aufgetan hatte. Vielleicht war es ja die Scham, die Papa davon abhielt, ein ebenso unbelastetes Verhältnis zu mir aufzubauen, wie zu Sanne. Immer ist es diese menschliche Unzulänglichkeit wie Scham, Eifersucht, Neid, Gier, die verhindert, dass die Menschen sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: nämlich auf die Liebe.
Jetzt wo ich nicht mehr lebe, habe ich Zugriff auf all die Erkenntnisse, die eigentlich klar auf der Hand liegen. Warum können sie das nicht leben? Ist es so, dass es entweder das Wissen oder das Leben gibt? Warum sonst weiß ich das jetzt alles, warum konnte ich das nicht so sehen, als ich noch gelebt habe? Aber ich will nicht bereuen.
Es war ja auch wirklich ein ganz dummer Unfall. Normalerweise nehme ich immer einen Bus früher. Nur an diesem Morgen hatte ich mein Handy nicht finden können, ganz profan! Ist es wichtig, sein Handy immer dabei zu haben? Jetzt jedenfalls finde ich eine andere Antwort auf diese Frage als noch vor einer Woche. Ich suchte es also. Als ich dann aus dem Haus lief, war der Bus schon weg, und ich musste ganze 9 Minuten an der Bushaltestelle warten. Ich habe den Wagen erst gesehen, als es schon zu spät war, da war er nur noch zwei Schritte von mir entfernt. Ich hatte nicht einmal mehr Zeit, mich zu erschrecken. Weil er genau auf mich zuraste, habe ich gar nichts weiter gespürt. In dem einen Augenblick: ein Krachen, im nächsten Augenblick ‚dann trugen mich die Englein fort’, hihi, lustig, ja, aber genau so war das. Und seitdem verstehe ich so viel mehr.

Ach, da unter den Leuten sehe ich ja auch diese Autorin stehen. Nachdenklich sieht sie aus. Auch wenn sie diejenige ist, die mich erfunden hat, und auch, wenn ich durchaus eigene Dynamik entwickelt habe, hat sie wohl jetzt auch ganz viel erkannt. Sie wollte eine Figur erfinden, die unsympathisch ist, und das hat sie sicher auch geschafft. Aber dass dies Gründe hat, das hat sie jetzt auch herausgefunden. Und mit dieser Erkenntnis sind wir ein wenig näher aneinander gerückt. Wer kann schon so, wie er will?

Ist eben alles nicht so einfach, jedenfalls, so lange man noch lebt.